"Zwei-Tausend-Fünfundviiierzig /
ja ihr werdet es schon seeeehn /
Wir holen die Meisterschaft und den Pokal /
Holstein Kiiiiel - internationaaaaaal!"
Diesen zweifellos von großer fußballerischer Expertise zeugenden Gesang, der seit einigen Jahren auf der Westtribüne des Holsteinstadions zu hören ist, nehmen wir als Ausgangspunkt, um über die Mobilität im Jahr 2045 in der Landeshauptstadt Kiel zu sprechen. Denn neben der alljährlich Ende September bei gutem Wetter stattfindenden Kieler Woche sind es gerade die Heimspiele der KSV Holstein, die die größte Herausforderung für die Verkehrsinfrastruktur an der Förde darstellen. Nicht nur zu den traditionellen Nordderbies gegen Werder Bremen oder Altona 93 strömen über 33.000 Fans in das für sündhaft viel Sponsorengeld umbenannte "Holsten-Stadion". Auch europäische Top-Teams wie Arsenal London, Degerfors IF oder Atalanta Bergamo geben sich mittlerweile am Westring 501 die Klinke in die Hand.
7.4.2045, Holsten-Stadion, Freitagabendspiel unter Flutlicht, passables Wetter:
Gut 30000 begeisterte blau-weiß-rote Fans und 3000 Gäste, denen die Lederhosen ausgezogen wurden, strömen aus dem Stadion, um sich entweder über die Kieler Gastronomie zu ergießen oder gleich den Heimweg anzutreten. Einige Bayern bleiben zudem über das verlängerte Wochenende für einen Kurzurlaub an der Küste, um trotz der 3:1 Auswärtsniederlage, die ja vorher absehbar war, ein paar nette Tage zu haben.
Nicht wenige sind wie ehedem zu Fuß unterwegs, um z.B. auch ihre Lieblingstresen in Gerhardstraße, Niebuhrstraße oder Holtenauer zu erreichen. Zum Glück war in den letzten 30 Jahren niemand in Kiel auf den Gedanken gekommen, ein neues Stadion auf einen Acker neben eine Autobahn zu setzen. So wie in manch anderen Städten.
Für einige Fans aus der Probstei ist wieder eine feuchtfröhliche Heimreise über Laboe fällich. Nach kurzer, vorher angemeldeter Fahrt in einem der vielen bereitstehenden selbstfahrenden Sammeltaxis wird am Anleger Bellevue gerade noch der letzte "schwimmende Tresen" bzw. Fördedampfer erreicht. Der, das sei am Rande erwähnt, nach einer Leserumfrage der "Neuen Kieler Rundschau" auf den Namen "Bernd Knauer" getauft wurde und stilecht mit Ethanol-Brennstoffzellen und nicht mehr mit dreckigem Schiffsdiesel betrieben wird.
Die große Masse kommt aber anders nach Hause. Vermutlich sind Anfang April nicht sämtliche der 6000 Radstellplätze hinter West- und Osttribüne sowie Gegengerade in Benutzung, aber das Rad ist trotzdem eines der drei Hauptverkehrsmittel an diesem Abend. Denn ohne Wartezeit und wenig Gedränge kommt man auf Radschnellwegen sehr schnell in Kiel von A nach B. Wer z.B. nach Hassee oder Richtung Mettenhof möchte, nimmt die "alte" Velo-Route 10. Aber auch auf von parkenden Autos befreiten Straßen wie Westring, der zweispurig für Räder reserviert ist, oder der Holtenauer Straße kommt man schnell und sicher mit dem Rad voran, egal ob mit elektrischer Unterstützung oder nicht. Eine Kieler Besonderheit sind die automatischen Fahrradfähren, die von Landtag, Bellevue und Friedrichsort nach Diedrichsdorf, Mönkeberg und Möltenort pendeln. Und das bei Bedarf sogar mitten in der Nacht, "on demand". Ohne zusätzliche Kosten zur Mobilitäts-Flatrate. Aber dazu später mehr.
Den größten Anteil hat aber die Kieler Tram. Direkt vor dem Stadion hält die Linie, die vom Langen Rehm bzw. der Fachhochschule in Diedrichsdorf über Vinetaplatz, Bahnhof, Exer, Westring, Uni nach Suchsdorf führt. Einen kurzen Fußweg entfernt fährt man von der Hanssenstraße entweder Richtung Friedrichsort oder Wellsee. Mit einem Mal Umsteigen kommt man auch direkt per städtischer Tram oder Regiotram in Stadtteile wie Elmschenhagen, Mettenhof, Melsdorf, Meimersdorf oder Russee. Und natürlich darüber hinaus in alle Richtungen, wo 2045 die Fans der norddeutschen Nummer 1 wohnen, egal ob Flensburg, Rendsburg, Neumünster oder Lübeck. Sicherlich kommt auch ein Tram-System bei 15000 Menschen, die damit auf einmal nach Hause wollen, an Grenzen. Und beim Wellnessfaktor ist auch 2045 noch Luft nach oben, wenn man in einem mit Fußballfans vollgestopften Verkehrsmittel unterwegs ist. Aber es kostet ja nix extra.
Denn die mobile Grundversorgung, die "Mobil-Flatrate", ist umlagefinanziert. Vom Prinzip her so, wie es Studenten in Kiel bereits seit den 90er Jahren mit dem Semesterticket kennen, aber bundesweit auf alle Einwohner ausgedehnt und mit "intelligenter" Lenkung. Fahrten im Umkreis bis 50km vom Wohnort sind grundsätzlich frei. Und man hat sogar einen Recht darauf, innerhalb dieses Radius von A nach B in angemessener Zeit befördert zu werden, unabhängig von Tageszeit oder Wochentag. Die Frage ist aber das "wie".
Denn in Echtzeit wird einem bei Eingabe eines Fahrtziels in die einheitliche Mobilitäts-App eine optimale kostenfreie Verbindung errechnet, die vorhandene Verkehrsmittel und deren Auslastung einbezieht. Das kann beispielsweise heißen, dass Angestellte, die werktags immer zur gleichen Zeit von Langwedel nach Kiel pendeln, mit einem selbstfahrenden Sammelbus mit 30 Sitzplätzen direkt zu den Arbeitsplätzen in der Innenstadt gebracht werden. Am Wochenende kann das aber auch heißen, dass man von einem kleinen Robo-Taxi mit etwas Wartezeit abgeholt wird und zum Bahnhof nach Bordesholm gebracht wird, um von dort die Reise in der Regiotram fortzusetzen. Die größeren Fahrzeuge sind entsprechend am Wochenende woanders eingesetzt, wo sie gebraucht werden. Also auch bei Großveranstaltungen wie Holstein-Spielen.
Und auch da gilt: Viele der selbstfahrenden Fahrzeuge sind inklusive. Wenn es z.B. rationeller ist, ein Sammeltaxi mit acht Insassen direkt nach Ottendorf zu schicken, statt diese auf Tram, Linienbus und Sammeltaxi inklusive mehrmaligem Umsteigen festzulegen. Das ganze System ist darauf ausgelegt, möglichst wenig Verkehr zu generieren und diesen gut zu verteilen. Wer überhaupt keine Lust hat, mit anderen das Auto zu teilen oder eventuell kleine Umwege zu fahren, kann sich natürlich auch ein Fahrzeug gegen Aufpreis mieten.
Das ganze funktioniert bei knapp Zehntausend Fahrgästen, die über diese Form des Car-Sharings den Heimweg antreten, entweder über Reservierung. Oder ganz spontan, wenn man z.B. vorher nicht weiß, ob man sich gleich noch 2 oder 8 Holsten reinstellt in der Stadiongastronomie. Vorausgesetzt natürlich, dass man die als gewöhnlicher Fußballfan im Jahr 2045 wieder nutzen darf.
Der Vorteil bei der Reservierung ist, dass minutengenau und in Echtzeit berechnet wird, wann ein Fahrzeug verfügbar ist. Bei Kurzentschlossenen kann es passieren, dass man länger auf ein freies Taxi warten muss. Also genau wie 2017. Wobei die Robo-Taxis des Jahres 2045 ihre Anweisungen auch in gut 100 Sprachen verstehen. Und selbst betrunkene Holsteinfans werden mittlerweile fehlerfrei verstanden. So gehören solche Kinderkrankheiten während der Pilotphase im Jahr 2030, wo beispielsweise ein vulgär fluchender 60-jähriger in voller Holstein-Montur nach dem Pokal-Aus gegen den Regionalligisten VfL Wolfsburg eigentlich in die Alte Lübecker Chaussee wollte, dann aber Stunden später in der Fackenburger Allee in Lübeck, Kreuzung "An der Lohmühle" im Taxi aufgewacht ist, längst der Vergangenheit an. In einer richtigen Großstadt mit konkurrierendem Fußballverein inklusive Fanszene hätte das natürlich auch ins Auge gehen können.
Und die Bayern? Die reisen im Grunde genommen nicht großartig anders als Auswärtsfans der Gegenwart per Bahn, mit angemieteten Bussen oder Autos. Mit eigenem Auto eher selten, denn ein eigenes Auto hat ja kaum noch jemand die meiste Zeit sinnlos herumstehen. Wer es eiliger hat und sich nicht nur eine Wohnung in München, sondern auch einen Kurzstreckenflug leisten kann, fährt mit der Regio-Tram mit einmal umsteigen am Bahnhof direkt zum Terminal des Flughafens Kiel-Hohn, für den ein kleines Teilstück der alten Bahnstrecke von Rendsburg über Erfde nach Husum reaktiviert wurde. Von wo aus im übrigen auch das unterlegene Team seine Rückreise mit einer elektrischen Chartermaschine antreten wird.
Der Vollständigkeit halber sei erwähnt, dass es auch 2045 einen kleinen Parkplatz für Privatautos der VIPs und Sponsoren am Holsteinstadion geben wird. Dort stehen dann die Elektro-SUVs, mit denen man die Eiger Nordwand mit 180 Sachen im Rückwärtsgang hochfahren könnte und die ganz knapp auch noch die Kieler Bergstraße bewältigen. Diese Gefährte, die männliche Dynamik und interessanterweise auch die wirtschaftliche Kompetenz ihrer Besitzer repräsentieren sollen, haben sogar noch ein eigenes Steuerrad. Es ist ja nicht alles anders im Jahr 2045. Wobei aber kaum jemand selbst steuert. Böse Zungen behaupten, das läge an den obligatorischen regelmäßigen Fahrsicherheitstrainings, der 0,0 Promille-Grenze und dem geforderten lupenreinen polizeilichen Führungszeugnis. In Wirklichkeit konzentriert sich aber auch der gemeine VIP nach dem Spiel auf dem Rücksitz lieber auf die Sportschau als auf die Stoßstangen vorausfahrender Fahrzeuge, so dass bezahlte Fahrprofis am Steuer sitzen. So gehört zu den guten Nachrichten der Mobilität der Zukunft, dass es immer noch eine berufliche Perspektive für Soziologie- und Politikstudenten in der Beförderungsbranche geben wird.
In diesem kleinen Exkurs in die Zukunft sind einige Fragen ausgespart worden. Hier sind nur Zuschauer von A nach B transportiert worden, aber wie beispielsweise das Bier und die Wurst ins Stadion kommt, wurde nicht verraten.
Möglicherweise ist manches auch zu optimistisch eingeschätzt. Wahrscheinlich findet auch 2045 die Kieler Woche bei schlechtem Wetter statt. Und Sportveranstaltungen am Karfreitag sind immer noch nicht erlaubt. Eventuell gibt es auch gar keinen Fördedampfer namens Bernd Knauer.
Und Altona 93 spielt nicht Bundesliga.
P.S.:
Der Betreiber von bielenbergkoppel.de war von 2007 bis 2013 einer der Schreiber ("n.h.") & Betreiber des unabhängigen Holstein-Kiel-Fanzines "Holstein-Block.de". Seit November 2017 ist der "Block" endgültig Geschichte. Dies ist sozusagen der letzte Artikel.
Wen es interessiert: Die Zahlen beim "modal split" der Verkehrsarten sind inspiriert von den Verkehrs-Prognosen zum neuen Wildparkstadion (pdf) in Karlsruhe mit 35.000 Zuschauern.