Fast die gesamten 90er-Jahre hatte ich einen direkten Blick von meinem Bett auf den Überflieger am Barkauer Kreuz. Wenn ich Anfang der 90er mal nachts mit Walkman vom Subway in der Bergstraße nach Hause spazierte, nahm ich einfach den direkten Weg vom Lübscher Baum zum Hornheimer Weg. Unterm Überflieger, zu Fuß direkt über den Ring. Eine echte Abkürzung, aber auch recht unübersichtlich. Später kamen unterm Überflieger Leitplanken hinzu, die man zusätzlich übersteigen musste. Manchmal gab es damals auch Leute, die diesen Weg sogar tagsüber nahmen. Heutzutage würden das sicher nur noch Lebensmüde machen, denn der Verkehr hat doch noch um einiges zugenommen. Ich wohne jetzt etwa 250 Meter stadteinwärts. Den Ring überquere ich trotzdem noch mehrmals die Woche, wenn ich mit dem Rad in den Garten will. Aber sicherlich nie auf dem direkten Weg.
Es dauerte ein Vierteljahrhundert bis zum letzten Freitag, dass ich wieder einmal den Theodor-Heuss-Ring vom Lübscher Baum aus zu Fuß betreten konnte. Und es fühlte sich wirklich sehr gut an.
Ein Tag, den man so schnell nicht wieder vergessen wird. Sowohl was "gute Vibes" und Optimismus angeht, aber auch ein sehr negativer Sinneseindruck - ganz zum Schluss. 500 Menschen wurden von den Anmelderinnen der TKKG erwartet. Und es wurden dann doch über 2000, die für die Vision eines autofreien Kiel auf die Straße gingen.
Das positive Bild schlechthin, was hängen bleibt: Diese beiden großartigen Damen am offenen Erdgeschossfenster, die nicht nur ganz offensichtlich ihren Spaß mit dem unverhofften, mehrstündigen Partytreiben auf dem Ring hatten. Sondern auch spontan für menschliche Bedürfnisse ihre Wohnung öffneten.
Die positive Message des Tages: Niemand hat sich vom Shitstorm in sozialen Medien einschüchtern lassen. Die Veranstalter*innen und sämtliche Aufrufer*innen waren und blieben tiefenentspannt. Die Nerven verloren hat nur der Oberbürgermeister, der im Vorfeld die Karte mit der Aufschrift "radikale Minderheit" zog, die normalerweise eher zum Blatt von CDU oder weiter rechts gehört.
Es war ein breites Bündnis von 20 Initiativen mit sehr unterschiedlichem Background. Neben klimabewegten, aktionsorientierten jungen Gruppen auch "gestandene" Verbände wie BUND, VCD und ADFC. Daneben auch die "FridaysForFuture"-Bewegung, die offiziell zwar nicht mit aufrief, aber doch mit mobilisierte und einen guten Redebeitrag beisteuerte. Und zudem sehr prominent auch dann noch vor Ort vertreten war, als die angemeldete Demo schon lange vorbei war. Und ich selbst bin auch ein bisschen stolz, als "bielenbergkoppel.de" stellvertretend für die Gegnerinnen und Gegner der Südspangen-Planungen nicht nur mit dabei gewesen zu sein, sondern auch einen kleinen Beitrag geleistet zu haben, dass dieses Bündnis so breit wurde.
Und natürlich waren auch verkehrswende-bewegte Mitglieder von weiteren Organisationen und Parteien "privat" vor Ort: Ob nun von Tramfürkiel e.V. oder Greenpeace, ob nun zahlreiche Mandatsträger*innen aus der Stadtpolitik wie die grüne Fraktionsvorsitzende Jessica Kordouni, der SPD-Ortsbeiratsvorsitzende Max Dregelies sowie Svenja Bierwirth und Stefan Rudau von der linken Ratsfraktion und Linke-MdB Lorenz Gösta Beutin. Und neben Ratsherr Ove Schröter von der PARTEI mit Florian Wrobel sogar noch ein echter OB-Kandidat, der sich nicht blamiert hat. Aber vor allem noch eine riesige große Masse Menschen, denen das Thema Autoverkehr einfach aus verschiedenen Gründen quer im Magen liegt.
Darauf lässt sich aufbauen ...
Es war eine gute Entscheidung, die Parteien ausdrücklich außen vor zu lassen. Es war im Vorfeld sehr angenehm, wie respektvoll und an der gemeinsamen Sache orientiert die verschiedenen Akteure und Akteurinnen miteinander umgegangen sind. Niemand hat nur "sein" oder "ihr" Ding durchgezogen, koste was es wolle. Und der Tag war auch deswegen großartig, weil es so eine organisatorische Breite wohl vorher noch nie für eine Aktion zum Thema Verkehrswende und Klimaschutz in Kiel gab. Manche kannten sich vorher überhaupt nicht. "Extinction Rebellion" musste ich auch erst einmal googeln. Und die ADFC-Regionalgruppe ist auch noch relativ neu. Das schönste Ergebnis dieses Tages wäre vielleicht, wenn sich daraus perspektivisch ein parteiunabhängiges "Bündnis für Verkehrswende" in Kiel schmieden ließe. So wie in anderen Städten, wie z.B. Wiesbaden, Hamburg, Darmstadt oder Bremen - wenn auch teilweise auch unter Beteiligung von Parteien.
Denn mein Eindruck ist, dass es sehr befruchtend und zielführend ist, wenn Radaktivist*innen, Tram-Fans, Klimarebell*innen und Umweltbewegte zusammen ihre Schnittmengen ausloten und dann gemeinsam auf Politik & Öffentlichkeit mit erheblich mehr Druck einwirken.
Und dann kam das Ende der Welt ... ziemlich plötzlich.
Ich selbst war am "Lauti"-Einkaufswagen bei der angemeldeten Demo geblieben und bis zur Abschlusskundgebung am Bahnhof mitgelaufen. Wir haben dabei erfahren, dass der Ring immer noch voll mit Leuten war. Wir sind dann schnell heimwärts gegangen (also Richtung Barkauer Kreuz), um vielleicht noch das Ende mitzubekommen. Nicht ohne zu Hause kurz was zu erledigen und ein paar freitagabend-kompatible Getränke einzustecken. Als wir dann am Theodor-Heuss-Ring ankamen, war das Volksfest mit Picknick, Musik und besagten beiden Damen noch in vollem Gange. Und auch die Polizist*innen aus meiner Heimatstadt Eutin, mit denen ich sprach, waren ziemlich entspannt.
Selbst die Räumung der Straße lief vergleichsweise "freundlich". Von kleineren Ausnahmen abgesehen, so weit ich es mitbekommen habe. Da habe ich in den 80ern und 90ern schon ganz anderes gesehen. Als dann die Verbliebenen auf den Bürgersteig gebeten wurden, meinte noch jemand halb im Scherz, dass es gleich richtig anfangen würde zu stinken. Dann wurde die Straße wieder freigegeben. Und von einem Augenblick auf den anderen war der Lärm und der Gestank wieder da. Wirklich sofort und heftig. Wo eben noch die Leute saßen und feierten. Es war ein wenig wie Weltuntergang, als das Führungsfahrzeug der Straßenmeisterei die Schleppe stinkender Autos hinter sich her zog.
Eine apokalyptische Szenerie, die hier an 365 Tagen im Jahr die Normalität ist.