Wenn jemand vor zwei Jahren erzählt hätte, dass Mitte 2020 mehrere tausend Radelnde mit Mund-Nasenschutz eine fröhliche Runde auf der B404 in Rufweite der Bielenbergkoppel drehen: Da hätte man sicher interessiert nachgefragt, welches psychoaktive Kraut solch aparte Visionen auslöst.
Das vergangene Jahr war sicher ein besonderes. Eine Kampagne für Natur, Klima & gute Mobilität unter Pandemiebedingungen durchzuführen: Gewöhnungsbedürftig. Sicher auch, weil viele Menschen gerade ganz andere Sorgen haben. Dass es trotzdem ganz passabel klappte: Ein Hoffnungsschimmer.
Jahresrückblick, Stand der Dinge & Ausblick auf was kommt. Viel Spaß beim Lesen ;-)
Was war ...
Besuch im Grüngürtel:
Fahrraddemos & Ortstermine mit Politik & Interessierten
Die zwischenzeitlichen Lockerungen ab Mitte April und das (wieder) viel zu "gute" Wetter machten gerade Aktivitäten unter freiem Himmel attraktiv.
Auftakt war hier eine von der TKKG und anderen Gruppen initiierte erste Fahrraddemo auf der B404 bis zur Schleife im Grünen bei Karlsburg. Was für ein mentaler Boost bei Sonnenschein nach Wochen des Lockdowns, die Straße temporär mit dem Rad in Besitz zu nehmen!
Der eingangs erwähnte Demozug auf der B404, der dann unter Federführung von Fridays For Future anlässlich des weltweiten Klimastreiks Ende September unter dem Motto "kein Grad weiter" fuhr, war dann mit etwa 6000 Teilnehmer*innen schlichtweg bombastisch.
Jenseits großer Veranstaltungen gaben sich aber Menschen aus der Politik und vom Klimagürtel-Bündnis für Meetings, Informationen und Gespräche vor Ort die Klinke oder ein freundliches Feierabendbier in die Hand. Dazu gehörte auch ein Gesprächskreis der Kieler LINKE. Inklusive des klimapolitischen Sprechers auf Bundesebene, dem MdB Lorenz-Gösta Beutin, der sich 2020 insgesamt sogar drei Mal Zeit nahm und sich aus erster Hand informierte.
Einen Austausch vor Ort gab es aber auch mit GRÜNE-Ratsmitgliedern und später auch dem Kreisvorsitzenden Luca Köpping.
Einen sehr spannenden Termin auf der Bielenbergkoppel gab es dann auch mit einer Abordnung vom SPD-Kreisverband inklusive der Vorsitzenden Gesine Stück und Stellvertreterin Christina Schubert. Wie ausnahmslos alle Meetings auf der Koppel war auch dieses menschlich gesehen von der angenehmeren Sorte. Besonders spannend war es aber deshalb, weil die SPD bis jetzt die Südspange unterstützt, es aber mittlerweile unterschiedliche Sichtweisen gibt.
Die Kieler SPD beginnt, sich mit Fakten zu beschäftigen. Endlich.
Wohl im Nachklang zu innerparteilichem Knatsch zwischen älteren Genoss*innen vom Kieler Ostufer mit Westufer-Sozialdemokrat*innen, denen zu viel Beschäftigung mit Verkehrswende und Klimakrise vorgeworfen wurde, ist seitens des Wahlkreisbüros des Kieler MdB Mathias Stein ein sogenanntes "Faktenpapier" zu Südspange und A21 erarbeitet worden. Als Diskussionsgrundlage zunächst nur intern verbreitet, mittlerweile aber auf den Seiten der Kieler SPD zusammen mit lesefreundlichen "FAQ" öffentlich einsehbar.
Der Schreiber von bielenbergkoppel.de hatte bei einem Treffen des Klimagürtel-Bündnisses mit dem MdB persönlich die Gelegenheit, dafür zu danken, dass sich jemand wirklich Mühe gegeben hat, Fakten zusammenzutragen. Auch wenn im Detail manches zu kritisieren ist oder fehlt: Wenn so etwas schon 2017 vorgelegen hätte, wäre vermutlich der fatale Ratsbeschluss pro Südspange unter Beteiligung der SPD nicht zu Stande gekommen.
Kurz gesagt: Was die verkehrlichen Auswirkungen angeht, so wird die Situation ENDLICH (!!!) anhand von Gutachten und nicht mittels Bauchgefühl älterer Herren analysiert. Keine signifikante "Entlastung". Im Gegenteil: Sogar zusätzliche Mehrbelastungen durch die Südspange in Alter Lübecker Chaussee oder Ostring zu insgesamt steigendem Autoverkehr, wenn die A21 kommt. Wenn man sich jahrelang in diesem Sinne mit Bezug auf Gutachten vergeblich den Mund fusselig geredet hat (bzw. viel begrenzte Lebenszeit in eine Internetseite investiert hat), dann ist das auch ein wenig Genugtuung.
Leider ist es aber nicht so, wie es der meinungsstarke KN-Schreiber Michael Kluth in seinem Jahresrückblick am 31.12. mal wieder kenntnisschwach und semi-wahr formuliert, dass die SPD nun um "eine Lösung ohne Umgehungsstraße" bitte. Aktuelle Beschlusslage IST nach wie vor die Südspange und Ausbau der A21 zum Barkauer Kreuz, was auch zuletzt die SPD-Ratsfraktion im November in ihrer Bürgerzeitung bekräftigt (pdf). Zitat: "Wir haben uns für den Anschluss der A21 auf das Stadtgebiet und die Südspange Gaarden eingesetzt und stehen weiterhin dazu." Einzige Neuigkeit ist bisher, dass die neue Machbarkeitsstudie der DEGES abgewartet wird und eine Südspange kein Dogma mehr ist.
So blieb das erwähnte Treffen mit Mathias Stein auch ohne greifbares Ergebnis. Aber man hat freundlich miteinander gesprochen, was in heutiger Zeit ja auch nicht selbstverständlich ist - mit Bildern vom belagerten Capitol in Washington vor Augen. Agree to disagree.
Eine erfreuliche Randnotiz aus der Stadtpolitik im Jahr 2020 ansonsten, dass sich der SSW nun mit sehr guter Begründung gegen die Südspange positioniert und im gleichen Atemzug die Tram für Kiel pusht.
Fakten, Fakten, Fakten
2020 informativ ...
Mit materieller Unterstützung seitens Kieler Naturschutzverbände und vielen Helfer*innen war es im Februar möglich, ein Info-Faltblatt mit Protestpostkarte in großer Auflage im Kieler Süden zu verteilen. Gleichzeitig wurde für eine erste Info-Veranstaltung im Waldhaus Anfang März geworben, die sehr gut besucht war und über die auch die Kieler Nachrichten ausführlich und fair berichteten - wenn auch in der Sache eher oberflächlich und mit Ungenauigkeiten.
Bildquelle: Kielaktuell
Dann kam der Virus und es wurde schwierig. Zumindest die internen Treffen des Klimagürtel-Bündnisses fanden ab Juni "Open Air" statt. Und der Schreiber dieser Zeilen durfte mehrmals "real" zum Thema Südspange informieren. Ob im Naturgarten des BUND, in einem Garten junger Aktivisti oder vor größerem Publikum zur Eröffnung der wunderbaren von den Kieler "Students4Future" organisierten Kunstausstellung im Vieburger Gehölz. Aus persönlichen Gründen war aber das absolute Highlight 2020 eine Info-Veranstaltung in der großen Halle der Alten Meierei ...
Mittlerweile läuft der Informationsfluss aber auch virtuell. Unzählige Video-Meetings fanden seit Ende Sommer statt, ob Gespräche mit Politiker*innen, zur Vernetzung oder Video-Präsentationen.
Hambi, Herri, Mauli, Danni ... Bieli?
2020 Spektakulär ...
"Mit Physik kann man keine Deals machen" erklärte Greta Thunberg im Oktober in einem Interview. In der Tat, genau so siehts aus. Und verständlich, dass insbesondere die jüngere Generation, die noch ein paar Jahrzehnte länger mit den Folgen des Klimawandels leben muss oder sogar noch Familien gründen möchte, angesichts wissenschaftlicher Fakten und destruktiver Politik nah an der Verzweiflung ist.
Wer sich nicht mit Verzweiflung abfindet, hat 2020 beim Hambacher Forst den Tagebau besetzt, um gegen eine absurde Kohlepolitik zu demonstrieren. Und hat im Herrenberger, Maulbacher oder Danneröder Wald Baumhäuser gebaut, um eine weitere "Autobahn in die Klimakrise" zu verhindern.
Der "Danni" von Kiel ist das Vieburger Gehölz. Oder genauer: die Bielenbergkoppel(n) mit den Kleingärten nebenan. Und so gab es auch hier 2020 Aktionen aus dem Umfeld des "Klimagürtel"-Bündnisses, um darauf hinzuweisen, dass neue (Auto-)Straßen das letzte sind, wofür jetzt noch viel Geld in die Hand genommen werden sollte.
Im August folgte auf eine symbolische Baumbesetzung im Wald mit Mahnwache und Infopoint wenige Tage später eine spektakuläre Besetzung der B404 mit Hochbeeten, die den Kieler Nachrichten eine 19-teilige-Bilderstrecke wert war und das Thema Südspange massiv auf die Tagesordnung brachte. Was eindeutig belegbar ist anhand explodierender Zugriffszahlen auf die Seite bielenbergkoppel.de über Suchbegriffe wie "Südspange Kiel". Sicherlich sind solche gewaltfreien Aktionen des zivilen Ungehorsams, die zu temporären Einschränkungen für Verkehrsteilnehmer*innen führen, nicht unumstritten und leider auch nicht ungefährlich für die Aktivist*innen selbst. Aber definitv effektiv.
Im Gegensatz dazu lud das Bündnis "Vorfahrt für den Klimagürtel" komplett legal und informationsorientiert im September zu einem Presserundgang im Südspangengebiet ein. Nicht nur, dass Infos aus erster Hand angekündigt wurden mit Vertreter*innen verschiedener Verbände. Auf dem Silbertablett wurden der Presse sowohl Aktivisti als auch betroffene Kleingärtner*innen serviert. Was für ein guter Service! Und auf dem Eiderwanderweg wurde noch eine aufwändige Visualisierung der Südspangenbrücke über die zukünftige A21-Nebenstrecke vorbereitet. Die Kieler Nachrichten sagten ab. Aus Termingründen. Wir hatten trotzdem Spaß.
Zur Ehrenrettung des Kieler Monop ... äh ... Flaggschiffes des Qualitätsjournalismus: Im Dezember gelang es KN-Edelfeder Heike Stüben erfreulich treffsicher, bei einer ursprünglich als Autobahndemo geplanten Kundgebung auf dem Theodor-Heuss-Ring (für die Printausgabe) die bestmöglichen Interviewpartnerinnen der Welt zur Anwohnerperspektive zu befragen. Wie bei der Verkehrspolitik gilt wohl auch im Journalismus, dass es hilfreich wäre, wenn den Männern die Schäufelchen weggenommen würden.
Was 2021 kommt
Corona runter, Klimagürtel-Bündnis rauf
Vermutlich (hoffentlich!!!) gehen zur Jahresmitte die Infektionszahlen so weit runter, dass die Pandemie nicht nur aus den vorderen Plätzen der Nachrichtensendungen verschwindet. Sondern vor allem aus dem Alltag. Termine vor Ort werden ebenso wieder möglich werden wie Info-Tische oder eventuell größere Info-Veranstaltungen mit physischer Präsenz. Dabei ist völlig klar: Das Klimathema wird mit Macht zurück auf die Tagesordnung kommen - zwangsläufig! Und somit auch teure Straßenbauprojekte im Kontext von massiven Investitionen für klimafreundliche Mobilität, die dringend notwendig wären.
Bis dahin wird sich wohl auch das Klimagürtel-Bündnis rein online koordinieren und vielleicht auch weiter ein "virtueller Stammtisch" von bielenbergkoppel.de ausprobiert. Bereits im Februar wird das Bündnis auf dem Mobilitätskongress SH (online) bei einem Programmpunkt zum Bundesverkehrswegeplan vertreten sein und referieren ...
Das neue Jahr hat allerdings schon zwei weitere neue Bündnispartner gebracht, nämlich den Kieler ADFC und die neue Initiative "Health for Future", wo sich klimabewegte Menschen aus dem Gesundheitsbereich engagieren. Der aktuelle Stand sind nun 19 verschiedene Verbände und Initiativen, die sich für den vollständigen Erhalt des Kieler Grüngürtels einsetzen. Zuletzt kamen im vergangenen Jahr die Kieler Naturfreunde hinzu - ein alter, traditioneller Umweltverband, der SPD-nah ist.
Wundertüte DEGES-Machbarkeitsstudie
Für den Herbst 2021 ist das Ergebnis einer neuen Studie angekündigt. Unter anderem die Kieler SPD hat angekündigt, diese Studie abzuwarten, bis sie sich endgültig positioniert.
Es wäre ein schlauer Zug gewesen, hätte die Projektgesellschaft DEGES, die mit den Planungen rund um die Südspange und den A21-Ausbau betraut ist, vor der Ausschreibung einer Machbarkeitsstudie mit neuer Variantenprüfung mit Gegner*innen dieser Projekte gesprochen. Es hätte dem ganzen eine gewisse Legitimierung und Autorität gegeben, wenn "verträgliche" Lösungen ebenso geprüft würden und nicht nur unterschiedlich große Übel.
Soweit Infos und Gerüchte scheibchenweise durchgesickert sind, werden die Varianten, die im alten 2016er-Gutachten der Stadt geprüft wurden, in die neue Prüfung mit einbezogen. Auch soll angeblich eine Variante im Gespräch sein, die vom Wellseedamm durch den Grüngürtel am Wellseer Wohngebiet Stauffenbergring/Kreisauer Ring vorbei Richtung Ostufer führt. Klar ist, dass der Auftrag der DEGES die Umsetzung des autozentrierten Bundesverkehrswegeplans ist und nicht klimafreundliche Mobilität. Eine Fernstraßengesellschaft baut keine Tram-Linien oder Terminals für Kombinierten Verkehr.
Was aber auch völlig klar ist: Egal wo eine irgendwie modifizierte oder eventuell anders benannte Südspange lang laufen würde, wäre sie eine Straße, die heftigsten Gegenwind bekommen würde. Und ebenso klar: Selbst wenn keine Südspange gebaut würde, so würde alleine der A21-Ausbau zum Barkauer Kreuz die innerörtliche Nebenstrecke durch den Grüngürtel notwendig machen und Grünbereiche verlärmen und versiegeln. Das "Klimagürtel-Bündnis" hat sich hierbei schon eindeutig und vorausschauend positioniert: Vollständiger Erhalt des Grüngürtels und Verkehrswende. Es geht also nicht "nur" um die Südspange.
"Autobahnwahl" im Herbst?
Die Besetzung des Danneröder Forstes in Hessen hat die kommende Bundestagswahl spannend gemacht. Denn in Reaktion auf die massive Kritik an den hessischen Grünen, die die Rodung einer breiten Waldschneise für eine neue Autobahn ermöglichten, forderten die Bundesgrünen ein Moratorium beim Autobahnbau. Ob das ernst gemeint ist, wird man nur erfahren, wenn eine grün-rot-rote Bundesregierung mit Kanzlerin Baerbock nach dem 26. September 2021 eine Mehrheit hat.
Die kommenden Monaten werden wichtig sein, um den Druck weiter hoch zu halten und absurde Bauprojekte zu thematisieren. Lokal, aber auch überregional. Sowohl bielenbergkoppel.de als auch das Klimagürtel-Bündnis sind an entsprechenden Initiativen auf Bundesebene angedockt (z.B hier), um im Idealfall koordiniert Duftmarken für eine Mobilitätswende ohne neue Autobahnen zu setzen.
Vor Ort wird spannend sein, inwiefern Klimagerechtigkeit und bessere Mobilität bei den Parteien und Kandidat*innen hier eine Rolle spielen - auch im Kontext der Südspangen-Planungen. Zumindest daran, dass da der klimapolitische Sprecher der LINKE im Bundestag (s.o.) mit Herzblut bei der Sache sein wird, besteht kein Zweifel.